«Offen und agil sein»

«Offen und agil sein»

Der Managing Director von Procurement Partner und der Geschäftsführer von Procure.ch zu aktuellen Herausforderungen.

 

Fachkräftemangel herrscht auch im Beschaffungswesen. Wie hat sich dieser Mangel in den letzten Jahren entwickelt, und welche Auswirkungen hat er?

Andreas Kyburz: Der Fachkräftemangel wurde lange angekündigt und erwartet. Aktuell akzentuiert sich der Umstand darin, dass eine der meistgesuchten Qualifikationen diejenige der Einkäuferin respektive des Einkäufers darstellt. Diesem «Mangel» kann nicht auf Knopfdruck begegnet werden. Quereinsteigende müssen entsprechende Möglichkeiten erhalten. Das Rüstzeug dazu kann berufsbegleitend erworben werden.

David Schertenleib: Anderseits hat die Bereitschaft einer externen Unterstützung bei der Besetzung von Vakanzen in der Beschaffung in den letzten Jahren zugenommen, da der Suchaufwand, die geeignete Fachkraft zu finden, massiv gestiegen ist. Grundsätzlich sind die Anforderungen und Erwartungen an den Einkauf ebenfalls massiv gestiegen, und wir stellen fest, dass sich im Einkauf «etwas bewegt».

 

Welche spezifischen Fähigkeiten und Qualifikationen sind in der Beschaffungsbranche besonders gefragt?

DS: Eine gute Ausbildung und Weiterbildungen zu spezifischen Einkaufsthemen sind sicher eine gute Basis und ein wichtiger Grundpfeiler für den Einkaufsverband. Spezifische und profunde Fachkenntnisse in den entsprechenden Warengruppen wie auch Erfahrungen in den jeweiligen Branchen sind sehr gefragt.

 

David Schertenleib (links) und Andreas Kyburz: Der Berater und der Geschäftsführer diskutieren über Fachkräftemangel, die Digitalisierung und neue Ansätze.

 

Welche Strategien und Initiativen haben sich als erfolgreich erwiesen, um Fachkräfte für Positionen im Beschaffungswesen zu gewinnen und langfristig zu binden?

DS: Eine allgemeingültige Aussage kann da nicht gemacht werden. Wichtig aus unserer Sicht ist, dass die Unternehmen respektive die Vertreterinnen der Unternehmen authentisch und offen sein müssen. Durch zahlreiche Rückmeldungen von Kandidaten, die wir im Rekrutierungsprozess begleiten, stellen wir fest, dass es immer noch eine beachtliche Anzahl Unternehmen gibt, die noch nicht im Jahr 2023 angekommen sind. Ein konkretes Beispiel: im Bewerbungsprozess keine zeitnahe Rückmeldung über das weitere Vorgehen geben und die Kandidatinnen und Kandidaten warten lassen. Einige Einkaufsverantwortliche haben immer noch die Einstellung, dass die Bewerberin oder der Bewerber froh sein darf, für «ihr» Unternehmen arbeiten zu dürfen. Schon seit einiger Zeit sind wir von einem Anbieter- in einen Nachfragermarkt übergegangen.

 

Wie gehen die Unternehmen mit dem demografischen Wandel um, um sicherzustellen, dass sie auch in Zukunft über ausreichend qualifizierte Mitarbeitende im Beschaffungswesen verfügen?

AK: Gute Frage – die Antwort ist noch nicht gegeben. Der aktuelle Mangel belegt, dass das so noch nicht gelingt. Wie in anderen Branchen wird sich hier auch der Einkauf als Fachfunktion etwas überlegen müssen. Allem voran dürfte ein gutes Image – im Sinne von Stellenwert – der Beschaffenden und von deren Rolle in den eigenen Unternehmen dienen. Zudem scheint es entscheidend, jungen Talenten die Möglichkeit zur Entfaltung zu geben.

DS: Die Unternehmen sind in der Findungsphase, und es gibt verschiedene Ansätze. Wichtig aus meiner Sicht ist, dass man Neues ausprobieren sollte und nicht stur am Bisherigen festhält. Den demografischen Wandel kann man nicht verändern, und man muss sich den daraus resultierenden Herausforderungen stellen respektive sie berücksichtigen. Das bedeutet nicht, dass man jedem Trend nachspringen muss, um attraktiv zu wirken. Authentisch bleiben ist dabei wichtig.

 

«Neue Ansätze müssen seriös geprüft und angewendet werden.»

David Schertenleib

 

Wie entscheidend ist eine Balance zwischen traditionellen Beschaffungspraktiken und modernen, agilen Ansätzen?

AK: Absolut entscheidend. Wie sonst soll den aktuellen Herausforderungen (Stichwort «BNAU», «Business Not As Usual») begegnet werden können? Umgekehrt sind die von Ihnen traditionell genannten Praktiken nicht wegzudenken und entscheiden ebenso über den wirtschaftlichen Erfolg wie die aktuelle Anpassungsfähigkeit im Sinne von Agilität.

DS: Auch wenn sich der Einkauf im Moment «neu erfinden» muss, werden einige traditionelle Beschaffungspraktiken nach wie vor ihre Bedeutung und Berechtigung behalten. Es ist jedoch auch nicht von der Hand zu weisen, dass neue Ansätze seriös geprüft und, wenn sinnvoll und relevant, angewendet oder eingeführt werden müssen. Auch klassische Einkaufsthemen wie Verhandlungen haben sich nicht grundlegend verändert, dennoch gibt es neue Erkenntnisse und Anwendungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit der Digitalisierung. Offen und agil zu sein, ist ein wichtiger Ansatz.

 

Können Sie uns Beispiele für innovative Ansätze nennen, die Unternehmen in Bezug auf den Fachkräftemangel im Einkauf erfolgreich angewendet haben?

AK: Das wird sich in den kommenden Monaten weisen; bis dahin haben Personalunterstützungsdienstleister Hochkonjunktur, und die Beschaffenden sind chronisch überlastet. Ein wesentlicher Ausweg dürfte «Procurement on demand» im Sinne von gezielten Einsätzen für bestimmte Themen sein.

DS: Eine Standardlösung gibt es nicht. Dennoch beobachteten wir in den letzten Monaten eine klare Tendenz in Richtung «Einkauf as a service» oder auch «Procurement on demand», wie es mein Kollege nennt. Dieser Gedanke ist aber leider bei vielen Einkaufsverantwortlichen noch nicht angekommen. Wieso muss man alles kaufen oder besitzen? Was bei  Maschinen, Fahrzeugen oder einer Übersetzungsdienstleistung schon gang und gäbe ist, wird bei den Fachkräften noch sehr selten angewendet. Ich bin nicht Fan vom neudeutschen Ausdruck «Body-Leasing». Aber wenn wir mit Einkaufsverantwortlichen sprechen, dann herrscht immer noch die Meinung vor, dass echte Einkäuferinnen und Einkäufer auf der Lohnliste stehen müssen. Je mehr Kästchen ein Organigramm der Einkaufsabteilung aufweist, desto wichtiger ist der Einkauf. Die Nachfrage hinkt hier dem Angebot nach, denn wir verfügen über einen recht grossen Pool an Einkäuferinnen, die ihre fachspezifischen Kenntnisse als Interimsmitarbeiterinnen anbieten möchten und keine Festanstellung suchen. Die Tendenz zur Teilzeitarbeit beschleunigt diesen Trend noch. Wenn ein neu eingestellter Mitarbeiter nach kurzer Zeit zu wenig spannende Projekt hat, dann verlässt er die Firma wieder und sucht sich eine neue Herausforderung. Wieso soll ich als Einkaufsleiter eine strategische Einkäuferin «Bauleistungen» einstellen, wenn ich nur für ein Jahr in ein grösseres Bauprojekt involviert bin?

 

«Der beste Platz zum Lernen ist das berufliche Umfeld.»

Andreas Kyburz

 

 

Welche Möglichkeiten bieten sich sowohl für Arbeitgebende als auch für Arbeitnehmende, um ihre Fähigkeiten auf dem neuesten Stand zu halten?

AK: Natürlich die laufende Ausbildung für Quereinsteigende respektive die Weiterbildung für Berufsleute und erfahrene Beschaffer ohne entsprechende Qualifikation. Diese wird generell «on the job», also parallel zur Arbeit, erfolgen. Der beste Platz zum Lernen ist das berufliche Umfeld, denn es gibt keine Grundausbildung im Sinne einer Lehre als Einkäuferin oder Einkäufer.

DS: Spezialistinnen werden immer wichtiger. Aus diesem Grund ist eine solide Grundausbildung im Einkauf wichtig, aber sich ein Expertenwissen in einer oder ein paar wenigen Warengruppen anzueignen, ist in der heutigen Zeit noch fast wichtiger.

 

Wie zentral ist die Zusammenarbeit mit Bildungseinrichtungen, um den Fachkräftemangel langfristig zu bekämpfen?

AK: Absolut zentral, da die Wirtschaft die Angebote gemäss ihrem Bedarf benötigt. Dazu ist ein laufender Austausch unerlässlich. Als Fachverband definiert sich Procure.ch über die Bedürfnisse der Mitglieder, «von der Praxis für die Praxis».

DS: Bildung ist sicher ein zentrales Element, aber auch die berufliche Erfahrung und die damit verbundene Spezialisierung sind wichtig. Eine Fachkarriere sollte ebenso möglich sein wie eine Linienkarriere. Denn eine Fachspezialisierung sollte für die Mitarbeitenden genauso Karrieremöglichkeiten bieten wie eine klassische Beförderung zur Teamleitung oder Abteilungsleitung.

 

Die mangelnde Digitalisierung, eine veraltete Unternehmenskultur und wenig steigende Löhne sind immer wieder genannte Problemfelder. Was wird hier vonseiten aller Verantwortlichen unternommen?

AK: Die mangelnde Digitalisierung ist leider Fakt. Es ist immer auch eine Ressourcenfrage und gerade im Zeitpunkt des Fachkräftemangels doppelt schwierig, da dies deutlich Personalressourcen bindet. «Veraltete Unternehmenskultur» ist mir zu pauschal. Die Unternehmenskultur ist wohl weniger das Problem als der oft bemängelte «Stellenwert» des Einkaufs und die damit verbundene Reputation respektive mangelnde (strategische) Einbindung. Die Löhne sind Ausdruck dieses internen Stellenwertes und auch dort primär im internen Vergleich. Wichtig ist, dass der Einkauf auf Augenhöhe mit den anderen Geschäftsleitungsbereichen eingebunden und entlöhnt ist.

 

Dieser Artikel wurde ursprünglich am 21. September 2023 in der Handelszeitung publiziert